Zwischen Pflicht und Liebe

Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.
1 Joh 4,16b

Von Gott geliebte Gemeinschaft

Es ist kein langes Leben gewesen, das am 21. November 1695 in Westminster bei London sein Ende gefunden hat. Doch es ist Leben gewesen – voller Erlebnisse und Musik. Mit höchstem Glück und finsterstem Unglück. In einer Zeit, die sich fast so schnell verändert hat wie die unsere, hat er sich immer wieder neu den Begebenheiten anpassen müssen. Auf Erfolg durfte er sich nie lange ausruhen. Die Grenze zum Misserfolg war stets nah. Und doch: Sein Leben hat geleuchtet und klingt bis heute nach.

Der Henry Purcell ist mit gerade einmal 36 Jahren gestorben. An welcher Krankheit genau, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Längst hat die Zeit mit sich gerissen, was an ihm sterblich gewesen ist. Sein Werk aber ist unsterblich. Die Zeit kann ihm nichts anhaben. Der Henry Purcell hat Konventionen gesprengt und die Musik seiner Zeit geprägt. Er hat für vier Königinnen und Könige Musik komponiert, bei Krönungen, Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen musikalisch begleitet. So hat er die nachfolgende Generation beeinflusst und unter anderem Georg Friedrich Händel inspiriert, der sein Werk als Vorlage genutzt hat.

Dieses Leben ist ein Leben für und von der Musik gewesen. Das hat schon in seiner Kindheit angefangen. In eine Musikerfamilie hineingeboren, ist er früh mit dem Gesang in Berührung gekommen. Schon mit zehn Jahren hat er im königlichen Knabenchor gesungen. Wie alt er gewesen ist, als er aufgenommen wurde, ist nicht überliefert.

Der Stimmbruch in der Pubertät macht es nötig, dass er sich neu orientiert. Er wird Assistent des Chorleiters und spielt Orgel. Erste Stücke entstehen. Schließlich wird er als Organist an die berühmte Westminster Abbey berufen und nimmt kurze Zeit später auch die Organistenstelle an der Chapel Royal an. Er spielt buchstäblich für Gott und Könige!

Entsprechend breit ist sein Schaffen: von Liedern für den Gottesdienst über Lobgesänge auf den König bis hin zur Musik für das wiederaufkommende Theater. Im Geburtsjahr von Henry Purcell endet die puritanische Republik unter Cromwell mit ihrer Sittenstrenge, die unter anderem zum Verbot von Theateraufführungen geführt hatte. Als Orpheus Britannicus – als Dichtergott Großbritanniens – genoss der Henry Purcell schon zu Lebzeiten großen Ruhm.

Als er am 21. November 1695 stirbt, ist die Trauer groß. Man sucht nach einem würdigen Grab für solch einen Musiker. Und gäbe es einen passenderen Ort, als ihn an der Stätte seines Wirkens zu begraben? So bestattete man ihn am 26. November neben der Orgel in der Westminster Abbey und spielte bei seiner Trauerfeier Stücke von ihm.

Eines von diesen Werken, die seinen Ruhm begründet haben, ist die kurze Oper Dido und Aeneas, aus der wir heute Morgen die Chorstücke hören. Die Oper greift antike Mythologie auf und erzählt sie nach. Das ist nichts Besonderes. Speziell aber ist: Der Purcell tut es als einer der ersten in einer Oper auf Englisch! Und das in einer Zeit, in der die meisten Sängerinnen und Sänger in London aus Italien stammen und Englisch für sie eine fremde Sprache ist!

Die Engländerinnen und Engländer sind begeistert von der Oper. Die tragende Rolle des Chores und die epische Musik ziehen sie in den Bann. Noch dazu kennen viele den Stoff aus dem Schulunterricht. Die Klassiker stehen auf dem Stundenplan. Vergil und sein auf Latein verfasstes Epos Aeneis stehen auf dem Stundenplan.

Die Zuhörer wissen, wer der Aeneas ist. Sie wissen, dass ihm mit Hilfe der Götter die Flucht aus Troja geglückt ist, das soeben von den griechischen Truppen durch die List mit dem Trojanischen Pferd zerstört worden ist. Sie wissen darum, dass eben dieser Aeneas als trojanischer Prinz das Erbe der Kultur weitertragen soll. Ja, dass es ihm bestimmt ist, ein neues Troja aufzubauen. Er wird die Stadt nicht selbst gründen. Aber seine Urururenkel sind Remus und Romulus.

Doch sein Weg ist kein einfacher. Himmlische Mächte stellen sich Aeneas und seinen Getreuen in den Weg. Die Reise von der Hoffnung in eine neue Zukunft ist mehr eine Flucht als eine Abenteuerreise. Das Mittelmeer – ein stürmisches und garstiges Meer, in dem Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, nicht erst in unseren Tagen den Tod finden. Ihre Reise ist reich an Entbehrungen.

Als sie an der Nordküste Afrikas in die Stadt Karthago gelangen, erscheint ihnen die Stadt wie ein Paradies. Ein Stück vom Himmel auf Erden. Aeneas fragt sich, ob er am Ziel seiner Bestimmung ist. Soll aus Karthago das neue Troja werden? Soll sie zum Zentrum einer Macht werden, die den ganzen Mittelmeerraum beherrscht?

Es fügt sich alles so gut. Der alte König hat eine junge Königstochter. Dido heißt sie. Die Liebe schlingt ein zartes Band zwischen ihr und Aeneas. Sein Herz frohlockt. Er hat Glück gefunden – und das im doppelten Sinn. Eine Liebe fürs Leben und eine Liebe, die ihm ganz ohne Kampf die Krone über Karthago bringen würde. Er muss nur Geduld haben!

Doch – so erzählt es Vergil – weiß Aeneas um seinen göttlichen Auftrag: Man muss den Göttern mehr gehorchen als den eigenen Gefühlen und der eigenen Liebe – könnte er sagen. Merkur erinnert ihn an seine Pflicht.

Aeneas bricht mit Dido. Er verlässt sie. Ihm geht Pflicht über Liebe. Dido zerbricht an ihrem gebrochenen Herzen und nimmt sich das Leben. Die Feindschaft zwischen Karthago und Rom ist für die Ewigkeit gesetzt. Eine unsichtbare Grenze trennt Europa auf immer vom afrikanischen Kontinent. Die Erzählung wirkt bis heute nach.

Die Geschichte von Dido und Aeneas ist die Erzählung eines archetypischen Konflikts, der zum Menschsein gehört. Der Konflikt, der in der Entscheidung zwischen Pflicht – ja gar mitunter göttlicher Pflicht – und der Liebe besteht, kann jeden von uns treffen. Die Entscheidung hat Konsequenzen – das macht die Erzählung von Dido und Aeneas deutlich. Konsequenzen, die sich in der Welt- und Individualgeschichte immer wieder zeigen.

Wieviel Unglück haben Könige und Herrscher über die Welt gebracht, die ihrer vermeintlich göttlichen Bestimmung gefolgt sind? Im Namen Gottes und in der festen Überzeugung, einem höheren Zweck zu dienen, werden Härte gegen sich selbst und Gewalt gegen andere für notwendig gehalten.

Gerade die Zeitgenossen von Henry Purcell haben das erlebt. Unter Oliver Cromwell hat der Puritanismus das ganze Leben bestimmt. Die persönliche Freiheit ist stark eingeschränkt gewesen. Harmlose Vergnügungen wie das Theater sind verboten gewesen und haben als Sünde gegolten.

Aber auch die gegenteilige Wahl ist nicht ohne Probleme. Wer der Liebe folgt und darüber seine Pflicht vergisst, findet ebenso selten Glück. Romeo und Julia sind ein Beispiel dafür. Die Macht der Liebe überwindet nicht alle Hindernisse, sondern führt in die Tragödie.

Wenn Liebe und Pflicht doch bloß keine Gegensätze wären! Wenn die Liebe Pflicht und die Pflicht doch Liebe sein könnten!

Vielleicht greift Henry Purcell ja gerade darum in die Handlung seines antiken Stoffes ein. Bei ihm ist es nämlich kein Gott, der Aeneas an seine Pflicht erinnert, sondern ein böser Geist, von einer Hexe beschworen…

Pflicht oder Liebe, Liebe oder Pflicht. Ein scheinbar unlösbarer Widerspruch. Selbst Jesus betet im Garten Getsemani: „Lass diesen Kelch – lass den Tod am Kreuz – an mir vorübergehen!“ Und er stellt sich – wie Aeneas – unter den göttlichen Willen und betet: „Doch nicht ich will – sondern wie du willst. Dein Wille, Gott, soll geschehen.“

Sind wir dem Widerspruch von Pflicht und Liebe ohne Entrinnen ausgeliefert? Kann es für uns Hoffnung geben, wenn selbst Jesus sich diesem Widerspruch stellen muss? Er will leben – und muss doch am Kreuz sterben. Muss den Widerspruch aushalten.

Jesus, der menschgewordene Gott, hält den Widerspruch aus. Darin liegt unsere Hoffnung. Denn er hält ihn nicht nur aus – er nimmt ihn mit ans Kreuz. Der Widerspruch stirbt mit ihm. Denn am Kreuz stellt sich Gott dem Widerspruch. Am Kreuz stirbt Gott, den der Mensch in den Widerspruch führt. Am Kreuz werden Liebe und Pflicht eins.

Denn Gott erfüllt in seinem Sterben die Verpflichtung der ganzen Schöpfung gegenüber ihrem Schöpfer. Er hebt die Schuld auf und versöhnt sie mit der Liebe. Er befreit den Menschen aus der Bindung an die Pflicht. Befreit ihn aus dem Kreislauf von Schuld und Sühne.

Am Kreuz stirbt der Gott der Pflicht. An Ostern steht der Gott der Liebe zu neuem Leben auf. Gott ist ganz und gar Liebe.

Wer der göttlichen Liebe folgt, folgt dem Willen Gottes. Wo Liebe ist, da ist „dein Wille geschehe“ erfüllt!

Aeneas kann nicht seinem Herzen folgen. Er folgt seiner Pflicht. Er bringt großes Unglück über Dido, über Karthago und über das Verhältnis der Menschen untereinander. Die Erfüllung der Pflicht trennt Europa und Afrika, trennt Rom und Karthago, trennt die Liebenden.

Doch in Jesus Christus ist der Gegensatz überwunden. Wir sollen Gottes Willen tun. Doch ist dieser Wille nichts anderes als zu lieben. Wer liebt, erfüllt den Willen Gottes. Wer liebt, ist in Gott, und Gott ist in ihm.

Liebe und Pflicht – sie sind keine Gegensätze mehr. Sie sind eins.
Darum: Folge deinem Herzen. Lasse es dich zu deinem Nächsten führen. Erfüll in der Liebe Gottes Gebot.
Amen

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Jesus sagt in der Bergpredigt: «Selig, die Frieden stiften – sie werden Söhne und Töchter Gottes genannt werden.»
(Mt 5,9)

Von Gott geliebte Menschheit

Morgen jährt sich der Beginn des Krieges in der Ukraine zum dritten Mal. Drei Jahre – das sind 156 Wochen, 1096 Tage, 26.304 Stunden, 1.578.240 Minuten. Gewalt, Verletzungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Tötungen, Kriegsverbrechen, Mord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit – unvorstellbare Grausamkeit.

Am 24. Februar 2022 brach zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa ein Krieg zwischen zwei Staaten aus. Damit gingen fast acht Jahrzehnte des Friedens in Europa zu Ende. Wobei – wenn man es genau nimmt – so friedlich war es ja gar nicht gewesen.

Bürgerkriege, wie auf dem Balkan oder in Nordirland, Gewalt durch separatistische Kräfte wie im Baskenland oder auf Korsika, aber auch die Verwicklung europäischer Länder in Kriege auf nicht-europäischem Gebiet, wie der Falklandkrieg oder der Krieg in Afghanistan, gab es auch während dieser Zeit des Friedens in Europa. Aus dieser Perspektive der Gewalt von und gegen den Staat hatte der Ukrainekrieg nichts Aussergewöhnliches.

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Nicht vom Brot allein

Lesung Lk 19,1-10

Jesus sagt: „Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“
Mt 4,4

Liebe Gemeinde

Hunger kennen wir heute nur noch vom Hörensagen. Er ist längstens keine Empfindung mehr, die zu unserem Alltag gehört. Natürlich knurrt auch uns noch ab und an der Magen. Klar haben wir nach getaner Arbeit „Kohldampf“ und ab und an das Gefühl, man könnte eine ganze Kuh verdrücken. Ja, es kann sein, dass uns ein „Hüngerli“ plagt – Doch Erlösung ist bei uns selten ferner als die paar Schritte bis zum Kühlschrank. Keiner mehr muss bei uns verhungern. Den ganzen Beitrag lesen

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Du bist es Gott wert!

Israel kann in Sicherheit leben.
Die Quelle Jakobs kann ungehindert sprudeln.
In einem Land voll Korn und Wein
spendet der Himmel Tau und Regen.
5. Mose 33,28

Von Gott geliebte Menschen

Vierzig Jahre lang führte Mose das Volk Gottes durch die Wüste. Nun stehen sie kurz vor ihrem Ziel. Vor ihnen liegt das verheissene Land. Doch Mose darf es nicht betreten. Ihm wurde prophezeit, dass er sterben wird, bevor das Volk das Land betritt. Ein letztes Mal wendet er sich an das Volk und spricht einen langen Segen über sie.

Dieser Segen erstreckt sich über ein ganzes Kapitel. Für jeden der zwölf Stämme Israels gibt es einen eigenen, beinahe persönlichen Segen. In der heutigen Lesung wurden jedoch nur der Anfang und das Ende betrachtet. Diese Verse bilden eine Klammer um die individuellen Segensworte für die Stämme. Sie sind der Rahmen, der das Bild des Segens trägt, und sie selbst sind ein Segen. Sie enthalten eine Zusage und ein Versprechen. Sie sind eine Hoffnung, die auf Gottes Gegenwart baut.

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Jahreslosung 2025

Prüft aber alles und behaltet das Gute
1. Thessalonicher 5,21

Von Gott geliebte Menschen

Als ich etwa fünf oder sechs Jahre alt war, durfte ich oft meine Grossmutter besuchen. Sie wohnte nur ein paar Strassen weiter, vielleicht 150 oder 200 Meter entfernt. Diesen Weg durfte ich alleine gehen, und ich fühlte mich dabei immer sehr erwachsen und gross, wenn ich mich auf den Weg machte.

Meine Grossmutter erzählte mir Geschichten, brachte mir das Stricken bei und zeigte mir, wie man Waffeln mit einem alten Waffeleisen backt. Wir gingen oft spazieren, begleitet von Tapsi, dem Hund meiner Tante, der bei meiner Grossmutter lebte.

Das Beste aber war für mich das Essen bei ihr. Sie kochte Spaghetti Bolognese, Omeletts, Reis mit Erbsen, Kartoffelbrei mit Fleischkäse und vieles mehr. Selbst das Gemüse schmeckte bei ihr besser als alles andere, das ich kannte. Nur einmal passte es mir nicht: Es gab Rosenkohl.

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