Der Mont St. Michel war der Höhepunkt unserer Ferienreise durch die Normandie. Als zwei von jährlich 2,5 Millionen Touristen besuchten meine Frau und ich den Klosterberg an der südwestlichen Grenze der Region. Seine Architektur schlug uns in den Bann und die über tausendjährigen Geschichten, die jeder Winkel und jede Ecke zu erzählen schienen, faszinierten uns. Stufe um Stufe erklommen wir den Felsen bis zur Klosterpforte und stiegen über selbige hinaus fast bis in den Himmel, zumindest aber bist zur heutigen Klosterkirche und dem Ziel vieler Pilger und Touristen. Im romanisch-spätgotischen Sakralbau war das Heilige fast mit Händen zu greifen. Gänsehaut kräuselte die Unterarme und stieg dem Nacken entgegen. „Wie es damals wohl aussah, als der erste Stein gelegt wurde? Wohl ganz anders als heute!“ Die gegenwärtige Kirche teilt kaum mehr einen Stein, mit der ursprünglichen Kapelle, welche um das Jahr 708 auf Geheiss des Bischofs Aubert von Avranches erbaut wurde.
Eine Legende berichtet über die Umstände des Baus und wie es dazu kam: Dem Bischof erschien der Erzengel Michael im Traum. Aubert solle auf dem Mont Tombe, wie der Felsen ursprünglich hiess, ihm zu Ehren eine Kapelle errichten lassen. Ein ehrwürdiges Unterfangen, welches einem Bischof würdig scheint, könnte man meinen. Der Erzengel und der Bischof in einträchtiger und heiliger Unterredung. Doch weit gefehlt. Ganz anders als Maria in der Weihnachtsgeschichte, reagierte der Kirchenmann auf das Erscheinen einer der Erzengel.
Dreimal musste der göttliche Bote Aubert besuchen. Zweimal fand dieser so gar keinen Gefallen am himmlischen Auftrag. „Eine Kapelle? Ja! Aber an jenem Ort?“ So abgelegen, dass es Aubert nicht einleuchten wollte, warum Gott auf diesem armseligen Felsen in der Mündung des Couesnon von den Menschen verehrt werden wolle.
Erst beim dritten Besuch, als Michael dem Bischof nicht nur gehörig die Meinung sagte, sondern seinen Worten auch noch mit einem kraftvollen Stoss seines Zeigefingers auf den Kopf des Kirchenfürsten Nachdruck verlieh, so dass dessen Schädel brach – ein Loch in der Reliquie des heiligen Aubert zeugt noch heute davon – zeigte sich der Bischof, wenn auch nicht überzeugt vom Bau, so doch einsichtig genug das Werk zu beginnen.
Der Fingerzeig Gottes – eine himmlische Kopfnuss! Eine Gewalttat musste den Menschen Aubert von seiner heiligen Aufgabe überzeugen. Gott lässt nicht locker. Er bleibt nicht bei „Du bist okay, wie du bist!“ postmoderner Wohlfühltheologie stehen, sondern fährt mit dem Zeigefinger des „Abers!“ weiter. „Du bist okay, wie du bist. Aber es ist deine heilige Pflicht zu tun, wozu du berufen bist!“ Wozu der Mensch berufen ist, das soll; das muss er tun. Und wenn es der Bau einer Kapelle am Ende der Welt ist, wie in Auberts Fall.
Ein ganz anderer Gott, als wir ihn heute zu kennen meinen, begegnet uns in dieser Legende. Nicht der himmlische Vater, der sich voll erbarmen den Armen und Schwachen, den Rechtlosen und Entrechteten dieser Welt annimmt. Kein Gott, der tut, was uns Menschen auferlegt wäre, was wir aber nicht tun, weil wir zu bequem oder zu sehr in Sorge um den eigenen Vorteil sind. Kein Gott, der den Menschen berufen sein lässt, und für ihn seiner Berufung folgt, damit der Mensch sich seiner nicht bewusst werden müsste. Der Erzengel Michael baut nicht für Aubert, auch wenn er ihn später tatkräftig unterstützen wird. Der Bischof muss das göttliche Werk vollbringen. Der himmlische König, der Aubert zu seinem Dienen zwingt, ist nicht bloss Gott der Armen. Er ist zu gleich Gott der Reichen und Mächtigen. Ein Gott, der den mächtigen Kirchenmann an seine Pflicht und den reichen Bürger Avranches zu seiner Bestimmung ruft, ja zwingt. Ein Gott, wie wir ihn heute nicht mehr kennen. Wie wir ihn heute aber nötig hätten.
Manchmal fehlt uns dieser mächtige Gott des Alten Testamentes. Es würde manchem von uns gut tun, wenn seiner Souveränität göttliche Grenzen nicht bloss gepredigt, nicht nur empfohlen und daran appelliert werden würden. Es würde von Zeit zu Zeit gut tun, wenn diese Grenzen auch wieder gesetzt würden. Wenn Engel wieder mehr sein dürften, als barocker Kirchenschmuck und esoterische Schutzwesen. Ein dritter Besuch eines Michaels täte so manchem Aubert unter uns gut.
Er täte auf jeden Fall – so schmerzlich es ist, dies zu zugeben – auch mir gut. Von Gott nicht nur in Liebe auf die Pflicht hingewiesen zu werden, sondern auch dazu gedrängt zu werden – selbst wenn dazu auch einmal eine schmerzhafte Kopfnuss, ein Tritt in den Allerwertesten nötig sein sollte.