Berge können von der Stelle weichen
und Hügel ins Wanken geraten.
Aber meine Liebe weicht nicht von dir
und mein Friedensbund wankt nicht.
Das sagt der Herr, der Erbarmen mit dir hat.
Jesaja 54,10
Von Gott geliebte Gemeinschaft
Ewiger Schnee. Tosende Wasser. Vom Wind gepeitschte Tannen an steilen Abhängen, als ob sie ihre Wurzeln direkt in den Felsen getrieben hätten. Gämsen, die kurz vor dem Absturz die besten Kräuter fressen. Ein majestätischer Adler zieht am Himmel seine Kreise. Reine Natur.
Meine Bergbilder. Wie sehen deine aus? Vielleicht ähnlich? Urchig. Ursprünglich. Kraftvoll. Unberührt.
In meinen Bergen kann ein Gewitter losbrechen. Es kann stürmen und hageln. Schnee kann meterhoch alles unter sich begraben. Plötzlich sich lösen und donnernd als Lawine ins Tal stürzen. Dem Menschen kann angst und bange werden, als ob die Welt zusammenbricht.
Doch – ist das Unwetter vorbei, so ist es, als wäre nichts geschehen. Die Berge stehen da, wie sie schon immer dastanden. Scheinbar unberührt überdauern sie Jahrhunderte, Jahrtausende, Jahrmillionen. Gerade so, als ob unsere Zeit sie nicht berührt. Als ob ihre Zeit eine andere wäre. Als ob sie ewig wären.
Weichende Berge und wankende Hügel kann ich mir nicht vorstellen. Dies liegt nicht bloss daran, dass es mir logischer erscheinen würde, wenn die Hügel wichen und die Berge wankten. Sogar im Vorstellbaren wäre es mir noch weniger unvorstellbar, wenn der kleine Hügel wiche, der grosse Berg aber bloss ins Wanken gerät. Nein, das Bild des Psalms übersteigt sogar die Grenzen meiner begrenzten Fantasie noch einmal. Es geschieht das Unvorstellbare des Unvorstellbaren. Die grossen Berge müssen weichen, die kleinen Hügel werden nur ins Wanken gebracht. Wie gewaltig muss jener sein, der dies vermag?
Die Macht und die Treue unseres Gottes gehen weit über meine Fantasie hinaus. Er ist mächtiger und treuer. Er ist ewiger als die Berge und die Hügel. Er ist ewiger als die Ewigkeit.
Und dennoch. Es sind gerade die Berge und Hügel, die auf jenen Schöpfer hinweisen. Wegen ihrer Grösse. Wegen ihrer scheinbaren Unveränderlichkeit. Wegen ihrer vermeintlichen Unberührtheit sind die Berge und Hügel ein Zeichen der Macht. Als Teil der Schöpfung Gottes verweisen sie auf die unvorstellbare Kraft des Schöpfers. Sie sind Symbole der Standhaftigkeit, der Reinheit, der Unverfügbarkeit und der Verlässlichkeit des himmlischen Königs.
Ihrem symbolischen Gehalt zum Trotz bleiben Berge und Hügel Teil der Schöpfung. So bedrohlich mir das Bild vom Weichen der Berge und dem Wanken der Hügel auch scheint, bleibt es doch vor allem ein Bild der Vergänglichkeit. Auch ihnen hat Gott ihre Zeit gesetzt. Wo seine Ewigkeit kommt, da weichen und wanken sie.
Was im Grossen der Schöpfung gilt, das gilt auch für die kleinen Teile. Wir Menschen sind keine Berge. Noch mehr als jene sind wir dem Werden und Vergehen unterworfen. Wir sind hineingeboren in eine grosse und dennoch von Gottes Ewigkeit begrenzte Welt.
Unsere Welt ist selbst solch eine Gebirgslandschaft. Wir führen unser Leben in ihr als Wanderer, als Nomaden, als Abenteurer, als Suchende und Findende. Nicht jeder kennt sein Ziel. Mitunter ändern wir die Ziele in unserem Leben. Einige setzen wir uns selbst, andere werden uns gesetzt. Hier und da schenkt Gott uns unser Ziel.
Jedes von uns hat seine Ziele. Nicht alle sind gleich – ja, sie sind oft höchst unterschiedlich. Wir wandern auf verschiedenen Wegen durch unser Leben. Und doch: So verschieden auch unsere Leben sind, so gibt es doch das eine oder andere, das sich ähnelt. Gerade so wie die Schweizer Alpen, die Rocky Mountains in Amerika und der Himalaja zwar völlig verschieden und doch ähnlich sind. Sie alle sind Gebirgslandschaften.
In der Gebirgslandschaft unseres Lebens gibt es Hügel und Berge. Es sind die Aufgaben und Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Bei manchen ist der Welt klar, es ist ein kleiner Hügel, ein leichter Anstieg. Nicht ohne Anstrengung zu überwinden, doch gut machbar. Wir haben alles, was es für den Weg braucht.
Hier und da wird ein Hügel aber auch zu einem Berg. Er fordert uns heraus. Wir müssen eine Aufgabe in unserem Leben angehen, bei der wir nicht wissen, wie wir sie bewältigen sollen. Der Weg liegt nicht klar vor uns. Es wird Abzweigungen geben und du musst dir den Weg immer wieder aufs Neue suchen.
Nicht jeder Weg wird begehbar sein. Unvermittelt kann er sich verlieren. Plötzlich steht man an einer Schlucht. Sie zieht sich quer durch die Landschaft. Vielleicht ist sie breit, vielleicht so eng, dass man es fast wagen möchte, zum Sprung anzusetzen, doch tief ist sie so oder so. Tief und trennend. Es sind die Schluchten der Schuld, die zwischen uns und anderen stehen.
Nicht immer ist es die eigene Schuld, die den Graben zieht. Auch fremde Schuld kann zur Schlucht werden. Es braucht Mut und Anstrengung, sie zu überwinden. Und manchmal braucht es einen, der von aussen kommt. Hier und da braucht es einen Brückenbauer, der den Weg zum Nächsten ebnet.
Über Hügel und Berge führt der Lebensweg. Es gibt Schluchten, die überwunden werden müssen, und manch öden Wegabschnitt. Es braucht Geduld und Ausdauer auf dem Weg, Weisheit, den guten Weg zu wählen. So gelangt man mitunter auf Passhöhen des Lebens.
Es sind Momente des reinen Glücks und der Freude. Hochzeiten des Lebens. Als ob sich einem der Himmel öffnet und man klarsieht, wenn auch nur für einen Augenblick. In diesen Heureka-Momenten erkennt man die wahrhaftig lohnenden Ziele im Leben. Wie Geschenke fallen sie einem zu. Diese Momente sind unverfügbar. Man kann nicht mehr als aufmerksam sein, damit man sie nicht verpasst.
Liebe Gemeinde, es ist eine wunderbare Landschaft, durch die eure Lebenswege führen. Doch wie man nicht unvorbereitet auf eine Wanderung aufbrechen soll, so sollt auch ihr nicht unvorbereitet gehen.
Du brauchst gutes Schuhwerk und wetterfeste Kleidung. Sie sollen dich schützen, vor spitzen Steinen, vor brennender Sonne. Du sollst im Regen nicht nass werden und deinen Weg weiter gehen können. Du brauchst Mut und Zuversicht, damit du das Abenteuer des Glaubens wagst.
Du nimmst einen Rucksack mit. Der möge voll Proviant sein und der soll sich immer wieder neu füllen dürfen.
Es sind die Begegnungen mit anderen, die uns den Rucksack füllen. Gemeinsam machen wir Erfahrungen. Miteinander denken wir über das Erlebte nach und ziehen unsere Lehren. In der Liebe und Freundschaft bleiben wir verbunden.
Das sind die Vorräte, aus denen du beständig zehren kannst.
Doch soll dir auch Orientierung mit dem Rucksack gegeben sein. Ein guter Kompass, nach dem du dich richten kannst, und eine Karte, die dir hilft, den Weg zu finden. Was dir an moralischen und ethischen Werten mit auf den Lebensweg gegeben wird, das wird deine Reise prägen.
In der Kirche, im Gottesdienst, darfst du diesen Kompass immer wieder neu am Wort Gottes ausrichten lassen. Als Pfarrer versuche ich dabei zu helfen, in Predigt, Seelsorge und Bildungsangebot. Es kann dir helfen. Doch ob du diese Hilfe annimmst, das entscheidest allein du. Wir Menschen sind frei. Wir können entscheiden, welchen Wegweisern wir folgen und welche wir nicht beachten.
Die Reise des Lebens ist lang. Wie man nicht allein auf eine Bergtour aufbrechen soll, so soll man auch im Leben nicht allein gehen.
Wir alle haben Menschen, die uns begleiten. Die einen gehen nur ein kurzes Stück, andere gehen treu an unserer Seite und lassen sich auch von den Irrwegen nicht schrecken. Mancher verlässt uns früher, als uns lieb ist. Andere wollen nicht gehen, obwohl man gerade ganz andere Wege einschlagen möchte. Manchmal wäre man gerne mehr für sich.
Dann wieder – und mögest du davon verschont bleiben – kommen dunkle Zeiten. Man geht allein und möchte es nicht. Man fühlt sich einsam und verlassen. Nicht jeder Weg kann ein anderer mitgehen. Nicht jeden Lebensabschnitt können wir begleitet gehen. Es gibt Zeiten, in denen die Berge weichen und die Hügel wanken.
Doch Gott gibt dir sein Wort. Er wird dir stets dann nahe sein, wenn du ihn brauchst. Gott bietet dir seinen Friedensbund an. Seine Gnade wird nicht von dir weichen und er wird in seinem Versprechen nicht wanken. Sein Friedensbund gilt.
Denn er ist mehr als ein Versprechen. Es ist ein Bund, den Gott mit uns Menschen geschlossen hat. Er bindet sich an unsere Zeit. Seine Hand ist uns entgegengestreckt. Er zögert nicht zuzugreifen, wenn auch wir unsere Hand ihm entgegenstrecken.
Dann wird er uns seinen Frieden geben. Einen Frieden, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg. Er gibt uns seinen „Schalom“, wie es im Hebräischen heisst. Schalom meint Wohlergehen, Lebenskraft, Geborgenheit, ewige Heimat. Es ist sein verheissener Segen. Das Leben in der Fülle seiner Ewigkeit.
Mögen die Berge auch weichen in der Zeit und die Hügel wanken. Mögen auch stürmische Zeiten und finstere Nächte auf deinem Lebensweg liegen. Du brauchst dich nicht zu sorgen. Du darfst Gott vertrauen. Wo auch immer dein Weg hinführt, gehst du ihn mit Gott, so sei unbesorgt. Er selbst ist an deiner Seite.
Amen