Ich habe gesungen hinein in die Nacht

Lass mich am Morgen deine Gnade hören,
denn auf dich vertraue ich.
Zeige mir den Weg, den ich gehen soll,
denn zu dir erhebe ich meine Seele.

Ps 143,8

Von Gott geliebte Menschenkinder

Der Tag neigt sich dem Ende zu. Das Licht schwindet, und die Nacht legt sich sanft über die Landschaft. Die Menschen kehren heim. Das warme Bett und der erholsame Schlaf warten bereits. Die Nacht ist das Land der Träume. In der Dunkelheit darf der Mensch vergessen, was ihn belastet. Er darf neue Kraft schöpfen, darf sich auf die Gnade des neuen Morgens freuen.

Die Nacht kann mit heilsamen und kraftspendenden Bildern und Gedanken verbunden sein. Doch oft ist sie nicht nur positiv besetzt. Es gibt etwas anderes, das zur Nacht gehört. Etwas Bedrohliches. Die Finsternis raubt uns den Sehsinn. Im Dunkeln sehen wir Menschen kaum etwas. Im Dämmerlicht der Nacht verschwimmen die klaren Konturen, und die Welt wird schattenhaft. Man sieht Dinge, die nicht da sind. Und das, was da ist, erscheint unsicher, weil es auch nur ein Trugbild sein könnte.

Vielleicht rührt das noch aus der Zeit, als der Mensch noch kein Feuer machen konnte, als unsere Vorfahren in Höhlen lebten und sich vor wilden Tieren schützen mussten. Damals waren die dunklen Nächte besonders bedrohlich. Man sah nicht, was um einen herum war. Jedes Rascheln und jedes Knacken im Unterholz jagte einem Schrecken ein. Man floh oder bereitete sich auf den Kampf vor.

Sicherlich nicht alle. Gewiss gab es Steinzeitmenschen mit einem sorglosen Charakter, deren Gene sie furchtlos machten. Sie sorgten sich nicht allzu sehr. Beim Rascheln im Unterholz dachten sie eher an einen Hasen und beim Knacken im Gebüsch sahen sie bereits den saftigen Braten vor sich. Sie rechneten nicht mit Säbelzahntigern oder Höhlenbären – und wurden gefressen. So hatten sie keine Nachkommen, die ihre Sorglosigkeit vererben konnten. Der Mensch lernte, sich vor der Dunkelheit zu fürchten. Dieses ungute Gefühl in der Nacht ist tief in unseren Genen verwurzelt.

Aus evolutionsbiologischer Sicht ist es daher verständlich, dass wir Menschen in der Nacht Dinge sehen, die nicht da sind, und dass das, was da ist, uns plötzlich unsicher erscheint.

Für mich ist es gerade diese Ambivalenz der Nacht, die im Lied von Alfred Flury anklingt. «Ich habe gesungen hinein in die Nacht» greift die Verunsicherung auf, die uns in der Dunkelheit überkommt. Das Lied überträgt das Erleben der Nacht auf die Suche nach Gott. Einem Gott, der nicht mehr gewiss da ist. Einem Gott, den die Welt nicht mehr sicher zu kennen glaubt.

Als das Lied 1964 erschien, traf Alfred Flury den Nerv der Zeit. Es brodelte nicht nur unter den Jugendlichen. Die Welt stand im Umbruch. Mit der 68er-Generation wurde eine Gesellschaftsordnung geboren, die sich von der alten Ordnung von Macht und Geld lösen wollte. Man träumte von einer neuen Welt, in der alle Menschen Geschwister sind und Gerechtigkeit statt bloßem Recht herrscht.

Doch der Gott, wie er in den Kirchen seit Jahrhunderten gelehrt wurde, war dieser neuen Generation suspekt. Man sah in der Religion ein Mittel zur Machterhaltung und Unterdrückung. «Religion ist Opium für das Volk», zitierte man Karl Marx. Sie betäube den Willen zur Gerechtigkeit und vertröste den Menschen auf ein Jenseits, anstatt die Welt zum Besseren zu verändern. Gott wurde fraglich.

Alfred Flury stellte sich dieser Herausforderung. Er suchte nach einer Sprache, die der Kritik seiner Zeit Raum gab und zugleich dem Sehnen nach Gott seinen Wert ließ. Der Mensch, der in die metaphysische Nacht hineinruft, in der Hoffnung auf eine Antwort. Es ist eine tastende Suche auf unsicherem Grund. Und doch keine gottlose Suche. Denn Alfred Flury war katholischer Priester. Nicht, weil es leicht gewesen wäre – für den Sohn einer Arbeiterfamilie aus Wangen bei Olten war es das nicht. Nicht, weil es Ansehen mit sich gebracht hätte – er setzte sich vor allem für die Jugend ein. Sondern, weil er getragen war von dem Glauben an einen Gott, der ihm auch in der Nacht entgegenkommt.

Warum erzähle ich euch das heute?

Ich bin überzeugt, dass die Suche von Alfred Flury viel mit unserer Situation und unserer Zeit zu tun hat.

Es ist, als lebten wir in einer Nacht-Zeit. Nicht nur in Bezug auf die Kirchen, die immer mehr zu einer Minderheit werden, sondern auch, weil der feste Boden der Tradition und der christlich-jüdischen Geisteshaltung Europas und Nordamerikas ins Wanken geraten ist. Es gibt keine allgemeine Moral mehr, an der wir uns orientieren können. Ethik – nicht nur die christliche – hat ihren normativen Charakter verloren. Gott ist uns fremd geworden. Er ist der ganz Andere. Wir besitzen ihn nicht. Wir können nur Rufende und Suchende sein.

So rufe ich in der metaphysischen Nacht nach Gott. So suche ich in der Finsternis, die das Diesseits vom Jenseits trennt, nach Zeichen seiner Präsenz. Doch ich finde nur Nachtschatten, die meinen Verstand verwirren. Sind sie Täuschungen der Dunkelheit oder Schatten seiner Anwesenheit?

Ich suche nach Licht, das mein Leben erhellt. Ein lebendiges Licht, das mich trägt und nährt. Ein Licht, an dem ich mich orientieren kann und das mich auf sicheren Pfaden führt. Doch ich finde es in dieser Welt nicht.

Doch wie die Morgendämmerung dringt ein Licht durch die metaphysische Nacht zu mir, das nicht von dieser Welt ist. Es ist ein Licht im Nebel des frühen Morgens. Man sieht es nicht klar, doch es kündet von einem neuen Tag.

Ich muss meinen Weg darin selbst suchen. Ich frage mich: Bin ich als Suchender in der Nacht verloren, weil sich bei Tageslicht zeigen würde, dass da nichts ist?

Man könnte das Lied von Alfred Flury pessimistisch deuten. Als Singen in der Nacht, das doch nichts bewirkt. Als Suche nach dem Licht ohne Erfolg. Als einen Weg gehen ohne Gewissheit, ob es der richtige ist.

Und doch will ich es nicht so verstehen! Der Refrain hat eine andere Pointe.

Das Lied spricht nicht nur von der Nacht und der Unsicherheit des Suchens, sondern in der bangen Frage des Refrains schwingt ein Vertrauen mit:

Dreimal richtet sich die Frage an ein Gegenüber: «Hast du mich verstanden? Weißt du, wer ich bin? Ich komme aus der Ferne und will zu dir hin.»

«Du» ist ein Beziehungswort. Es rechnet mit der Existenz des anderen. Wer nach Gott fragt und ihn anruft, steht bereits in Beziehung. Wer sich der Nacht als Suchender stellt, hat bereits gefunden. Denn wer sucht, wird von Gott gesucht. Der gott-suchende Mensch erkennt sich selbst als den von Gott Gesuchten.

Denn Gott sucht uns. Weil er sucht, suchen wir ihn. Die Nacht kann niemals so dunkel sein, dass durch sie nicht schon das Licht des neuen Tages leuchtet. Schwach – gewiss. Aber es ist da! Denn wer in der Nacht nach Gott sucht, wird nicht nur von Gott gesucht, sondern ist bereits gefunden. Die Gnade des neuen Morgens gilt mitten in der Nacht:

Oder wie es im Psalm heißt:
Lass mich am Morgen deine Gnade hören,
denn auf dich vertraue ich.
Zeige mir den Weg, den ich gehen soll,
denn zu dir erhebe ich meine Seele.

Amen

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