Vor kurzem las ich den Roman „Die Telefonzelle am Ende der Welt“ von Laura Imai Messina. Es war eine tief berührende Erfahrung, die in vielerlei Hinsicht auch mein eigenes pastorales und seelsorgerliches Wirken bereichert hat. Dieses Buch ist mehr als nur eine literarische Reise nach Japan – es ist ein stiller, poetischer Ruf, sich mit den grossen Themen des Lebens auseinanderzusetzen: Trauer, Erinnerung und der Weg zurück ins Leben.
Die Handlung: Verlust und Heilung
Der Roman erzählt von Yui, einer jungen Frau, die bei dem Tsunami im März 2011 ihre Mutter und ihre Tochter verloren hat. Während einer Radiosendung, die sie moderiert, erzählt ein Anrufer von einer mystischen Telefonzelle, die in einem Garten im Norden Japans steht. Er nennt den Ort „Bell Gardia“, der auf einem Hügel in der Nähe der Stadt Ōtsuchi. Diese Telefonzelle ist ein Zufluchtsort für Menschen, die ihre verstorbenen Angehörigen vermissen. Das Telefon ist nicht angeschlossen, aber das spielt keine Rolle – die Worte, die hier gesprochen werden, finden dennoch ihren Weg.
Yui macht sich auf den Weg zu diesem besonderen Ort und trifft dort Takeshi, einen Witwer, der auf seine eigene Weise mit dem Verlust seiner Frau ringt. Gemeinsam mit anderen Menschen, die zur Telefonzelle pilgern, beginnen Yui und Takeshi, ihre Trauer zu teilen und schliesslich auch wieder Freude am Leben zu entdecken.
Der Roman verwebt diese persönliche Geschichte mit einem grösseren Bild der Katastrophe von 2011, ohne jedoch überwältigend zu wirken. Er zeigt, dass Verlust eine universelle Erfahrung ist, die Menschen verbindet – und dass Heilung oft dort beginnt, wo man bereit ist, den Verstorbenen Raum im eigenen Leben zu geben.
Ein Ort für Gespräche mit den Toten
Eine der tiefsten Botschaften des Romans ist für mich, dass Trauer nicht bedeutet, jemanden loszulassen. Vielmehr geht es darum, dem Verstorbenen einen Ort zu schenken, wo er oder sie weiter in unserem Leben präsent sein kann. Die Telefonzelle wird zu einem Ort, an dem Menschen ihre Erinnerungen und Gefühle aussprechen können, frei von der Erwartung, dass sie „weitermachen“ müssen.
Ein Satz, der mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, lautet: „Das Telefon ist nicht angeschlossen, doch der Wind trägt die Stimmen fort.“ (S. 20). Diese Worte haben eine stille Kraft, die das Geheimnisvolle und Heilsame des Erinnerns einfängt. Und später im Buch heisst es: „‘Um hier zu sprechen, braucht man keine Stimme, oder?’ fragte Takeshi. ‘Nein, die braucht man hier nicht.’“ (S. 133f.) Diese schlichten, tiefsinnigen Sätze zeigen, dass man im Erinnern selbst dann mit den Verstorbenen sprechen kann, wenn einem auch die Worte fehlen. Die Erinnerung erhält mit der Telefonzelle einen Ort. Er bewahrt sie und macht es den Menschen zugleich möglich, ihr Leben weiterzuführen. Sie müssen sich nicht davor fürchten, den Verstorbenen noch einmal zu verlieren. Mit dem Telefon am Ende der Welt bleiben sie mit ihm verbunden. Die gelebte Beziehung hat einen neuen Ort bekommen.
Christliche Parallelen und universelle Wahrheiten
Als Pfarrer habe ich beim Lesen tiefe christliche Parallelen entdeckt, die zwischen den Zeilen aufleuchten. Eine Stelle, die mich besonders beeindruckt hat, beschreibt, wie ein Mann den Tsunami als Sintflut erlebte, an der er zerbrach. Den Taifun aber, der später die Telefonzelle bedroht, öffnete ihm die verschlossenen Augen und er sah die Wirklichkeit wieder. Er stand auf, heraus aus seinem Delirium, in das ihn sein Erleben des Tsunami geworfen hatte. Ausgerechnet der Taifun mit seiner zerstörerischen Kraft brachte ihm das Leben wieder. Sein Sohn Shio resümiert: „Wenn die grosse Sintflut aus dem Buch Mose ihn zerbrochen hatte, so war diese neue Sintflut für den Mann wie die Taufe des Neuen Testaments, denn anstatt ihn sterben zu lassen, erweckte sie ihn zu neuem Leben.“ (S. 206). Ein wunderbarer Satz, der kraftvolle Altes und Neues Testament miteinander verbindet und eine Brücke schlägt zwischen Gericht und Erneuerung, Tod und Auferstehung. Es erinnert mich daran, dass gerade in den tiefsten Wunden ein Keim von Hoffnung und Neugeburt verborgen sein kann.
Eine Empfehlung für Trauerbegleiter
„Die Telefonzelle am Ende der Welt“ ist ein Buch, das ich nicht nur Menschen empfehle, die Trauernde begleiten – sei es beruflich oder im privaten Umfeld, sondern ihnen ganz besonders. Es öffnet einen Raum für Gespräche über Verlust und zeigt Wege auf, wie Erinnerungen bewahrt und gleichzeitig Schritte zurück ins Leben gewagt werden können.
Für mich bleibt dieses Buch eine eindringliche Erinnerung daran, dass Trauer Teil des Lebens ist – nicht als etwas, das uns lähmt, sondern als etwas, das uns verbindet und erneuert. Es hat mir einen neuen Blick auf Trauer, Erinnerung und die Kraft des Lebens geschenkt.
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