Ein täglicher Gedanke in Zeiten des Virus – Tag 79

Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und die Geduld Christi.
2Thess 3,15

Die Normalität kehrt in unseren Alltag zurück. Bald wird der Lockdown nur noch ein Schatten sein. Vielleicht werden wir uns in einigen Jahren mit Wehmut an ihn zurück erinnern. «Weisst du noch», werden wir sagen, «damals während der Krise? War es nicht auch schön, wie solidarisch wir alle miteinander waren?»

Noch ist es nicht vorbei mit Corona und doch ist die Welt nicht mehr auf Notfallbetrieb. Die Menschen verhalten sich wieder wie vor der Krise. Alle sind beschäftigt. Man springt wieder. Es eilt und pressiert. Auf der Autobahn steht man wieder im Stau. Das entschuldigende Lächeln, wenn man einem anderen fast zu nahegekommen ist, ist wieder dem üblichen, mürrischen Gesicht gewichen. Es wird wieder gehupt, gedrängt und geflucht. Der Mensch schaut wieder für sich und nicht mehr für den anderen. Der ganz normale Wahnsinn ist zurück.

Die Herzen der Menschen sind wieder auf die eigene Freiheit, die eigenen Wünsche, die eigene kleine Welt und das eigene Wohlergehen ausgerichtet.

«Erst kommt das Fressen, dann die Moral», schrieb Bertolt Brecht in der Dreigroschenoper. Er meinte damit, dass der Mensch in der Not immer erst für sich selbst schaut. Moral ist dem Menschen erst möglich, wenn es ihm gut geht. In der Krise ist der Mensch Egoist. Ist die Krise vorbei, kann sich der Mensch wieder Moral und Anstand leisten.

Jetzt, am Ende der Akutphase der Corona-Krise denke ich Brecht irrt sich. Vielleicht ist das Gegenteil viel eher der Fall. Kaum waren die ersten, einschränkenden Massnahmen Mitte März beschlossen worden, begannen die Menschen einander zu helfen. Viele Junge boten ihren älteren Nachbarn spontan an, ihre Einkäufe zu erledigen. Andere organisierten in den Städten in kürzester Zeit Hilfsangebote für Obdachlose. An manchen Orten wurden Gabenzäune eingerichtet. Menschen spendeten anonym Essen, Hygieneartikel und Dinge des täglichen Bedarfs für Bedürftige, indem sie kleine Päckchen an Zäune hefteten. Menschen, die sonst in Gefahr stehen zu vereinsamen, wurden plötzlich von manchem Bekannten angerufen, weil man sich um sie zu sorgen begann. Corona brachte nicht nur viele Einschränkungen, sondern auch eine grosse Welle der Solidarität und der Menschlichkeit.

Es passierte einfach so. Von Mensch zu Mensch und fast ohne die Hilfe von sozialen Institutionen oder den Kirchen. Zumindest unsere Hilfsangebote wurden weit weniger genutzt, als ich es erwartet (und befürchtet) hatte. Fast so, als ob uns die Bedrohung durch das Virus viel näher an die Erfüllung des Wunsches im Brief an die Gemeinde in Thessaloniki gebracht hat, als wir sonst sind.

Vielleicht haben wir die Kirche und Religion in der Not viel weniger nötig als in der Zeit von Überfluss, Wohlstand und der Freiheit ohne Virus. Sie könnte uns daran erinnern, zu was wir alle in der Not fähig waren und sind. Mit dem Ende des Lockdowns kehrt ein Stück Normalität zurück. Doch sind wir nicht gezwungen auch selbst zur «Normalität» des Egoismus zurückzukehren. Auch in der Freiheit der Normalität sind wir frei solidarisch zu bleiben. Oder frei nach dem Brief an die Gemeinde in Thessaloniki: «Richtet eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und bleibt untereinander geduldig, wie Christus geduldig mit uns ist.»

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